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Antonio Grulli (La Spezia, 1979) ist Kunstkritiker und Kurator. Zu seinen Projekten gehören das Kuratieren des albanischen Pavillons auf der 60. Biennale von Venedig im Jahr 2024, des öffentlichen Kunstprojekts Luci d'Artista in Turin (lucidartistatorino.org) sowie des Studienprogramms der Stiftung Bevilacqua La Masa in Venedig. In der Vergangenheit war er für die Sammlung und die Aktivitäten im Bereich der zeitgenössischen Kunst des Palazzo Bentivoglio (Bologna, palazzobentivoglio.org) verantwortlich. Für die Ausstellung „weiss sind alle Farben. Julia Krahn über die Harmonie“ verfasste er folgenden Text:

LOGOS

Als Julia mir das erste Bild aus ihrem Projekt zeigte, bohrte es sich regelrecht in mich hinein. In einer früheren Fassung dieses Textes hatte ich noch geschrieben: »raubte es mir den Atem«. Dann erst wurde mir bewusst, wie lächerlich sich eine solche Formulierung im Diskurs über ein Bild ausnimmt, das für mich gerade im Atem seinen eigentlichen Schlüssel besitzt. Lächerlich und zugleich unzutreffend.

Weil das Bild jenes Mädchens mit dem weitgeöffneten Mund in mir eine Klarheit erzeugte, die imstande war, unzählige Elemente – wie zu einer symbolischen Form verdichtet –hervortreten zu lassen und zusammenzuhalten. Und nicht zufällig geschieht all dies mit Regensburg an einem Ort, an dem eine wegweisende Rede über das Verhältnis zwischen Mensch und Logos gehalten wurde.

Tatsächlich gilt der Logos in der christlichen Tradition als Ursprung aller Dinge, oft übertragen wir ihn mit ›Wort‹ oder ›Sprache‹. Logos bedeutet aber vor allem und mehr als alles andere logisches, vernunftgeleitetes Denken, das erhellende Prinzip, das dem Chaos Ordnung verleiht. In seiner ursprünglichsten Bedeutung meint Logos gleichwohl auch den Atem. Und ich glaube, gerade in dieser Schichtung von Bedeutungen liegt der Sinn von allem. Der eigentliche Sinn des Lebens. Und die berühmte Rede, die Papst Benedikt XVI. hier in Regensburg gehalten hat, entfaltete sich ausgehend von eben diesem griechischen Wort.

Julia Krahns Projekt kreist um den Regensburger Domchor – einen der ältesten und renommiertesten Chöre der Welt. Tatsächlich geht es der Künstlerin um das Konzept der Harmonie, eine vielleicht utopische, aber zumindest im musikalischen Bereich erreichbare Bedingung. Zu sehen sind einige der Kinder dieses Chors, fotografiert auf großformatigen, durchscheinenden Stoffbahnen, die zu beiden Seiten des als Ausstellungsraum dienenden Mittelschiffs hängen. Es ist ein ambitioniertes Werk. Der Druck von Fotografien auf großformatige Stoffbahnen spielt in Julia Krahns künstlerischer Praxis eine zentrale Rolle und stellt keineswegs bloß ein technisches Detail dar. Obwohl ihr Zugang stets von behutsamer Intimität geprägt ist, mündet ihre fotografische Arbeit häufig in ein raumgreifendes Format.

Die Künstlerin verbindet mit ihrem Werk einen hohen Anspruch: Es sucht gezielt den öffentlichen Raum, entschlossen, in unser Leben einzudringen, Fragen aufzuwerfen und kollektive Reflexion ebenso anzustoßen wie Diskussion. In der Malerei entspräche diesem künstlerischen Ansatz das Fresko oder die monumentale Wandmalerei und damit jene Formen, die über Jahrhunderte den bedeutenden und symbolisch aufgeladenen Orten des gesellschaftlichen Lebens vorbehalten waren. In diesem Sinn ist Julia Krahns Arbeit zutiefst politisch, nicht durch den expliziten Inhalt, sondern durch die Art und Weise, wie sie sich dem Blick darbietet, sich nicht an das einzelne Individuum, sondern an die Gemeinschaft richtet.

Die Kinder auf den Fotografien sind mit geöffnetem Mund gezeigt, eingefangen in dem Moment, in dem sie eine Note anstimmen, Klang hervorbringen, wie in der Bewegung erstarrt. Die halbtransparente Beschaffenheit des Trägers lässt die Architektur des Raumes durchscheinen und verleiht diesen Körpern eine beinahe immaterielle, nicht greifbare Präsenz. Vor allem aber sind es Körper, die vom Licht durchdrungen sind.

Und es sind Bilder, die eine doppelte Spannung aufbauen: Auf der einen Seite das voll ausgeschöpfte Potential eines Menschen im Akt des Singens, auf der anderen der leise, aber eindringliche Eindruck von Sprachverlust, der Abwesenheit von Atem. Und gerade in dieser Ambivalenz vermag das Bild zur Metapher für vieles zu werden, besonders für eine Empfindung, die unsere gegenwärtige Verfasstheit, womöglich gar die unserer westlichen Welt beschreibt. Ist die Abwesenheit von Stimme gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Gedanken? Und ist die Abwesenheit von Gedanken eine Abwesenheit von Atem?

Ich habe den Atem immer als einen Ring verstanden, nicht nur sinnbildlich, sondern als etwas, das Seele und Sprache spürbar verbindet. Der Geist wird durch den ausströmenden Atem zu Wort und Klang. Vielleicht ist der Gesang deshalb die göttlichste aller Künste. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, doch würde man mir sagen, der Gesang stehe am Ursprung der Religion, ich wäre nicht erstaunt, womöglich habe ich das sogar irgendwo gelesen. Und ein Chor trägt unweigerlich eine Spur des Göttlichen in sich – als Harmonie von Atemzügen und Seelen, die im Gleichklang schwingen.

Der Ausstellungsraum wird zusätzlich von einem Atemgeräusch erfüllt, welches das Raumvolumen mit beinahe physischer Präsenz durchdringt, als würde die Architektur selbst atmen, sich weiten und wieder zusammenziehen. Ein ruhiger, gleichzeitig schwerer Klang, der anhebt und wieder abebbt. Begleitend erklingen Incipit Lamentatio, von Pierluigi da Palestrina in Musik gesetzt. Sie sprechen von uns, von unserer Gegenwart, von Kriegen, die neu scheinen und doch, leider, immer dieselben sind.

Julia Krahns Werk ist gegenwärtig und zugleich zeitlos. Es verhandelt Fragen, die der Menschheit immer ein Stachel im Fleisch sein werden. Und darüber hinaus gelingt ihr etwas, das heute selten geworden ist, etwas, von dem sich viele Künstlerinnen und Künstler, so scheint es, zurückgezogen, abgewendet haben. Julia Krahn hat den Mut, die Kunst wieder an ihren Ursprung zu führen, sie als einen Denkraum zu konzipieren, in dem die großen moralischen, ethischen und spirituellen Grundfragen der menschlichen Existenz verhandelt werden, und dabei immer im lebendigen Körper, im wirklichen Leben verankert bleiben.

Glaube und Spiritualität können nicht nur, sie müssen einen Platz in der Kunst haben, andernfalls droht eine Verengung der Kunst selbst, und aus einer Disziplin, die imstande ist, das Kosmische zu umspannen und sich mit dem Unendlichen zu messen, wird ein armseliger, mechanischer Zeitvertreib, der sich an ein kleines Stück Welt klammert, das wir irrigerweise zu verstehen und zu beherrschen glauben.

Antonio Grulli
Übersetzung aus dem Italienischem von Victoria Lorini